Gleichwohl gerät dieses Postulat dann an Grenzen, wenn Kliniker sich trotz organisationaler Unterstützung wiederholt nicht an evidenzbasierte Sicherheitsstandards halten. Es stellt sich die Frage, ob es einen Punkt gibt, an dem Fachpersonen individuell zur Verantwortung gezogen werden sollen, wenn sie implementierte und akzeptierte Sicherheitsregeln nicht einhalten. Um eine positive Wirkung auf die compliance mit Sicherheitsregeln zu haben, müssen mögliche individuelle Konsequenzen bei Nicht-Einhaltung jedoch optimalerweise von Klinikern und Patienten grundsätzlich akzeptiert sein.
Driver et al. untersuchten in ihrer Studie, unter welchen Bedingungen und in welcher Form die individuelle Sanktionierung von wiederholten Regelverletzungen von Fachpersonen und Patienten unterstützt wird. Sie befragten dafür Ärzte, Pflegefachpersonen, Medizin-Studierende sowie Patienten in den USA. In der Befragung wurden drei Szenarien präsentiert, in denen eine Fachperson sich nicht an eine etablierte Sicherheitsregel hält: Die Hände-Desinfektion vor einem Patientenkontakt, die Evaluation des Sturzrisikos und das chirurgische Timeout.
Die Teilnehmer wurden zu jedem Szenario gefragt, welche institutionelle Antwort auf die Regelverletzung sie für angemessen halten und bei welcher Wiederholungshäufigkeit eine Sanktionierung erfolgen sollte. Als mögliche Formen der Reaktion konnten das interne Feedback, die Veröffentlichung auf einer Webseite sowie eine „Bestrafung“ durch finanzielle Sanktionen, Freistellung und Kündigung beurteilt werden. Insgesamt nahmen 183 Personen an der Befragung teil. Von den drei Sicherheitsregeln wurde das ausgelassene Timeout als am potentiell gefährlichsten eingestuft, die nicht erfolgte Hände-Desinfektionen am wenigsten gefährlich. Im Vergleich zur Hände-Desinfektion waren finanzielle Sanktionen für das fehlende Timeout (OR=4.3) oder ein ausgelassenes Sturz-Assessment (OR=1.7) eher akzeptiert.
Unabhängig von der Häufigkeit der non-compliance wurde von allen Befragtengruppen und für alle drei Standards die finanzielle Sanktionierung eher befürwortet als die Offenlegung von Regelverletzungen auf einer Webseite. Patienten und leitende Ärzte sprachen sich signifikant häufiger für Sanktionen aus als Assistenzärzte, Studierende und Pflegefachpersonen. Allerdings befürworteten Patienten Sanktionen schon nach einer signifikant geringeren Häufigkeit von Regelverletzungen durch einzelne Kliniker. Ab einer Wiederholungshäufigkeit von >= 16 Regelverletzungen stimmte eine Mehrheit aller befragten Gruppen bei allen drei Sicherheitsstandards finanziellen Sanktionen zu.
Die Studie widmet sich in empirischer Weise der zunehmenden Diskussion um die Grenzen der „No-Blame“ Kultur und die individuelle Verantwortlichkeit. Sie zeigt, dass sowohl Fachpersonen als auch Patienten bei häufig wiederholten Regelverletzungen von etablierten und gut implementierten Sicherheitsstandards institutionelle Reaktionen befürworten. Finanzielle Sanktionen sind deutlich stärker akzeptiert als die Veröffentlichung der Häufigkeit von Regelverletzungen.
Die Studie hat einige Limitationen, die die Generalisierbarkeit betreffen: So wurden relativ kleine Gelegenheitsstichproben aus einem homogenen Umfeld befragt. Ausserdem stellen sich praktische Fragen bei der Umsetzung von Massnahmen zur Sanktionierung: So ist zum Beispiel nicht immer klar, ob Regelverletzungen wirklich einem Individuum oder einem Team oder einer Abteilung zugeordnet werden können. Dennoch leistet die Studie einen wichtigen Beitrag in einer Debatte, die über Rahmenbedingungen individueller Verantwortlichkeit geführt werden muss. Dies ist auch aus Sicht derjenigen Fachpersonen wichtig, die sich konsequent an Sicherheitsstandards halten. Dabei muss gewährleistet sein, dass die „No-Blame“ Kultur als wesentlicher Faktor zur Verbesserung der Patientensicherheit erhalten und weiter gefördert wird.